Warum Vertical Farming Sinn macht

Maurice Wipf
The Log Book by Maurice Wipf
5 min readJun 28, 2017

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A vertical farm from the inside (Photo: AeroFarms)

Die Erde wird in einigen Jahren 8 Milliarden Menschen bevölkern. Sie zu ernähren wird eine schwierige Aufgabe sein. Eine mögliche Lösung dieses Problems nennt sich „Vertical Farming“. Der Blick auf Entwicklungen aus anderen Lebensbereichen zeigt, warum Vertical Farming eine logische Entwicklung darstellt.

Zunächst will ich aber zeigen, warum die bisherige Landwirtschaft nicht die Lösung für die Ernährung von 8 Milliarden Menschen sein kann. Die für Landwirtschaft nutzbare Fläche auf der Erde ist begrenzt. Dort, wo es fruchtbaren Boden gibt, sind die Lebensbedingungen auch für den Menschen gut. Die Agrarfläche konkurriert also mit Wohnraum. Gleichzeitig sollen Wälder nicht für Landwirtschaft und Viehzucht abholzt werden.

Saatgut kann durch Züchtung oder genetisch so verändert werden, dass der Ertrag pro Flächeneinheit gesteigert wird. Hierfür ist aber weitere Forschung notwendig. Außerdem müssen permanent neue Pestizide und Unkrautvernichtungsmittel entwickelt werden, da Insekten resistent gegen aktuelle Mittel werden. Durch die regelmäßige Neuentwicklung entstehen permanent Kosten. So werden Lebensmittel niemals billiger, als sie heute sind.

Die Abhängigkeit der Agrarfläche als „Infrastruktur“ zum Anbau von Lebensmitteln ist ein Problem. Dadurch ist auch der Output von Lebensmitteln unweigerlich beschränkt.

In der Vergangenheit gab es häufig Beschränkungen aufgrund von natürlichen Gegebenheiten. Die Beschränkungen stellen immer solange eine Grenze dar, bis man eine technische Lösung gefunden hat, die das jeweilige Problem unabhängig von der Natur löst.

Fortbewegung

Vor gerade einmal 120 Jahren waren Pferde und Kutschen das Fortbewegungsmittel für kurze und mittlere Strecken. Pferde stellten eine natürliche Beschränkung dar. Man konnte sie zwar füttern. Aber irgendwann mussten sie eine Pause einlegen. Autos ersetzten dann die Pferde. Sie laufen mit Benzin und bringen den Fahrer überall hin, wo es Benzin gibt. Für längere Strecke nutzte man Boote. Man war abhängig von Gewässern. Wo kein Wasser, da kein Schiff. Dann kam die Dampfmaschine, kurz darauf die Dampflokomotive und später Flugzeuge. So wurden Langstrecken über Land und zwischen Kontinenten in kurzer Zeit und in großem Maßstab möglich.

Wasserversorgung und Abwasser

Menschen siedelten sich an Gewässern an, um sich mit Wasser zu versorgen. In Flüssen wurden das Abwasser entsorgt. Die technische Lösung heute: Kanalisationen und Frischwasserleitungen.

Energie

Wasserkraft ist eine der frühen Energiequellen der Menschen gewesen. Aber auch hier war man an Gewässer gebunden. Die Energieausbeute war sogar vom Niederschlag abhängig. Weniger Regen bedeutete ein niedrigerer Flusspegel und somit weniger Kraft für die Wassermühlen. Dampfmaschinen im 19. Jahrhundert und Elektrizität seit dem 20. Jahrhundert machen Energie überall zugänglich.

Früher brauchte man Holz aus Wälder zum Heizen. Heute benutzt man Atom-, Kohle- und Solarkraftwerke, die überall gebaut werden können, wo Bedarf besteht.

Demokratisierung von Ressourcen

Alle Entwicklungen haben gemeinsam, dass sie die durch die Natur gegebenen Beschränkungen aufheben. Mit Technologie werden Ressourcen skalierbar, wodurch der Preis sinkt. Sie werden für mehr Menschen zugänglich.

Nur in der Landwirtschaft sind wir noch von der natürlichen Infrastruktur abhängig. Wo kein fruchtbarer Boden, da keine gute Ernte. Extremes Wetter verursacht zudem Ernteausfälle. Vertical Farming entfernt diese Abhängigkeiten.

Landwirtschaft kann nun überall und skalierbar betrieben werden.

Vertical Farms

Die Idee wurde von Dr. Dickson Despommier in seinem Buch „The Vertical Farm“ beschrieben. Es beschreibt den Anbau von Nutzpflanzen in Wasser anstatt Erde und den Einsatz von künstlichem Licht. Dies nennt man Hydroponik. Despommier geht noch einen Schritt weiter und stapelt Pflanzen übereinander, um den Ertrag pro Flächeneinheit zu steigern.

Das Anpflanzen in Wasser anstatt Erde hat den Vorteil, dass genau die richtige Menge an Nährstoffen die Wurzeln erreicht. Außerdem versickert überschüssiges Wasser nicht im Grundwasser, sondern wird aufbereitet und wiederverwendet.

Wie oben beschrieben müssen für den Anbau auf Agrarflächen immer neue Unkrautvernichtungsmittel und Pestizide entwickelt werden, wodurch Kosten entstehen. Vertical Farming braucht nichts von beidem. Dadurch sind die Lebensmittel nicht nur gesünder und Chemikalien sickern nicht in das Grundwasser. Die Kosten für Lebensmittel sinken auch immer weiter.

Die fallenden Kosten sind auf mehrere Faktoren zurückzuführen:

  • Der Aufbau der Vertical Farm macht Automatisierung einfach.
  • Fortschreitende Technologie macht die Automatisierung sogar noch billiger.
  • Der Einsatz von Unkrautvernichtungsmittel und Pestizide ist überflüssig. Genauso wie die fortlaufende Neuentwicklung aufgrund von resistenten Insekten.
  • Geringe Transportkosten bei Vertical Farms in Stadtnähe.
  • Keine unkalkulierbaren Umweltfaktoren (Sonneneinstrahlung, Niederschlag, Wind). Dadurch ist der genaue Ertrag vorhersehbar und Lebensmittelpreise schwanken weniger.

Ein großer Kostenfaktor sind die Energiekosten für die Beleuchtung. In den letzten Jahren ist der Preis für Solarstrom pro Kilowattstunde gesunken und er wird weiter sinken. Mit sinkenden Energiekosten sinken auch die Preise für Lebensmittel aus Vertical Farming.

Die EU subventioniert die Landwirtschaft jährlich mit Milliarden. Nur durch die Subventionen sind Preise möglich, wie wir sie heute in Supermärkten finden. Vertical Farming wird eines Tages Lebensmittel so günstig machen, dass Subventionen überflüssig werden und Geld für andere Sektoren wie Bildung frei wird.

Entscheidend ist:

Mehr Lebensmittel aus Vertical Farming bedeuten sinkende Preise. Mehr Lebensmittel aus Agrarfläche bedeuten steigende Preise.

Was wollen wir? Wollen wir Entwicklungen fördern, die zu Lasten der Armen gehen? Das kann nicht das Ziel sein. Die Welt muss mehr Lebensmittel produzieren, um alle Menschen zu ernähren. Mit Vertical Farming ist das möglich. Mit Agrarfläche nicht.

Natürliche Beschränkungen bestehen aber nicht nur beim Anbau von Lebensmitteln. Denn Menschen essen nicht nur Agrarprodukte. Einen Großteil macht Fleisch aus. Tierzucht nimmt ebenfalls viel Platz weg. Nicht nur durch die Tierhaltung, sondern auch durch das Anpflanzen von Futter für die Tiere.

Tiere werden gezüchtet, um sie anschließend zu töten. Aber man wird unmöglich jeden Menschen zum Vegetarier machen können. Und das soll hier auch nicht das Thema sein.

Wichtiger ist es, die Beschränkungen Tier und Agrarfläche aus der Fleischproduktion zu entfernen. Es gibt Unternehmen, die mit Stammzellen von Tieren Fleisch züchten. Es wird noch mit dem unappetitlichen Begriff „lab-grown food“ beschrieben. Das Ziel ist, Fleisch zu züchten, das von Fleisch aus Tierhaltung nicht zu unterscheiden ist. So könnte auch die Fleischproduktion von natürlichen Beschränkungen befreit werden.

Eine persönliche Notiz

Als ich Despommiers Buch las, empfand ich wie bei nur wenigen Dingen, dass das wirklich jemand umsetzen muss. Europa war einmal vollständig bewaldet. Heute ist der Großteil der Fläche durch Landwirtschaft vereinnahmt. Als Kinder mussten wir den Wald fast schon suchen, weil es kaum noch Wälder in Stadtnähe gibt. Wenn Landwirtschaft in Vertical Farms zieht, dann wird Land wieder der Natur zurückgegeben, oder man benutzt einen Teil, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Vertical Farming ist eine Entwicklung, die der ganzen Gesellschaft zugute kommt.

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